Stadtraum ist Handlungsraum, der sich radikal verändert zwischen Formen des Neoliberalismus, der Globalisierung und Migrationbewegungen, so die Ansicht der beiden Herausgeberinnen Elke Krasny und Irene Nierhaus, die den Anfang mit zwei Beiträgen besetzen. Nierhaus versucht sich Gegensätze vorzustellen, die sich gegenüberstehen wie Tag und Nacht. Bei Krasny sind es Sondierungsversuche auf unbekanntem Terrain, der Pfad durch die Stadtwelt. Vielleicht kreuzen sich die Wege der beiden an einer Stelle einmal? Die Autoren mit vielen Beiträgen legen eine Verbindung nahe. Die Aufsatz Sammlung unterscheidet drei Gruppen, die der Konstellationen, der Interventionen und der Relationen. Hierauf haben sich die unterschiedlichen Textbeiträge verteilt, die im übrigen oftmals mit s/w Fotografien bebildert sind.
URBANOGRAFIEN
Stadt ist gleich Handlungsraum:
URBANOGRAFIEN - Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie
Hrsg. Elke Krasny
und Irene Nierhaus
Dietrich Reimer Verlag, Berlin
1. Auflage, 2008
Broschiert, 208 Seiten
Größe: 17,2 x 1,4 x 24,2 cm
ISBN-13: 978-3496013945
Irene Nierhaus untersucht zunächst periphere Räume, wie Brachen und leerstehende Gebäude, die bei ihr im Spannungsverhältnis von Integration und Widerspenstigkeit stehen. Ihr Rückgriff auf die Romantik nimmt Ruinen, um sie als Ausdruck der Moderne zu begründen. Genauso bilden zerbombte Städte nach 1945 Trümmer- und Gerölllandschaften, die als Rückkehr zur Wildnis erscheinen. Auch Filme von Pier Paolo Pasolini, wie "Accatone" (1961) oder "Mamma Roma" (1962) nehmen diese Körperlinie auf. Die Wohnstadt ist dann Gegenraum zum Brachland.
Elke Krasny dagegen schreitet fort über Worte: Narrativer Urbanismus oder die Kunst des City-Telling. Es geht ihr um Methode, bei der sie sich auf Michel de Certeaus und Henri Lefebvres "spatial turn" oder "narrative turn" bezieht. Ihr Sprachgebrauch ist abstrakt und theoretisch angelegt. Das ist manchmal schade und könnte prosaischer sein bei der Thematik.
Sie versucht die Tätigkeit des Gehens als fortlaufende Erzählung zu suggerieren. Ein Gehen durch die Stadt ist gemeint. Doch hier gibt es im Grunde unzählige Herangehensweisen, die sich sogar von Stadt zu Stadt unterscheiden müssen. Es handelt sich um eine Arbeit ohne Ende, die sie sich vorgenommen hat, und ohne jemals an eine endgültige Lösung heranzukommen.
Der Raum der Erzählung ist der eigene, resultiert Elke Krasny. Das ist eine überzeugende Aussage. Wird jedoch gleich wieder zu einem Konglomerat zerstoben. Eine Semantik des gesagten Satzes kommt nicht wirklich zum Vorschein, sondern tritt hinter Theoretisierung und Abstraktion über die Methodik zurück. Schließlich denkt sie an das Gemeinwohl, wenn sie meint, es ginge nicht darum, daß StadtplaneriInnen bestimmen, sondern darum, daß BürgerInnen die StadtplanerInnen auf ihrem Weg der Worte partizipieren lassen.
Zwei Zugangsweisen werden den Konstellationen, Interventionen und Relationen somit zu Anfang vorangestellt. Irene Nierhaus erschließt Metafiguren sozialer Ordnung und Handlungsperspektive und geht auf historische Aspekte ein, während Elke Krasny aktivistisches Stadthandeln als Metatätigkeit einfordert. Der Abschnitt Konstellationen dient dabei als Ausgangspunkt. Interventionen werden als selbstreflexive und eine Kultur der Veränderung vorantreibende Praxis urbaner Handlungsweisen verstanden und Relationen zeigen sich als vermittelndes Element zwischen den Ebenen der Stadt. Koppeln Wahrnehmung und Erfahrung als Weiterdenken aneinander.
Am Beispiel Bremen wird der bebaute Raum und die Bilder die daraus gewonnen werden veranschaulicht. Eberhard Syring nimmt sich Touristen die mittels Fotografie Sehenswürdigkeiten versuchen festzuhalten. Das wirkt zunächst, als wäre es nicht mehr als nur Plattitüde. Gleichzeitig zitiert er die "promethische Scham" bei dem Literaturhistoriker und Kafka-Kenner Günther Anders, um von jenem permanenten Wandlungsschub zu berichten, dem die Stadt unterliegt. Die "gute Stube", der alte Marktplatz, hat sich hier zur Gaststube transformiert. Es ist der Weg an Bildern, wie ihn Elke Krasny nahe legt, wenn sie vom City-Telling spricht. Seine Literatur bei der Interpretation bezieht Eberhard Syring aus: Kevin Lynch, Das Bild der Stadt (1968) und Detlev Ipsen, Raumbilder (1997). Kommt zu dem Schluß, Stadt wird immer anders ausfallen, als der Masterplan vorgibt.
Eine andere Herangehensweise durch die Stadt Bremen verspricht Spurenlesen von Käthe Protze. Was bei ihr zunächst an Cowboy und Indianer spielen erinnert, mündet in einem Spaziergang durch die Stadt. Auf Spurensuche begeben sich auch Rebecca Burwitz, Christa John, Ninja Kaupa und Janne Köhne. Bei ihnen wird daraus ein Stadtspaziergang zu Orten der Transformation. Spuren lesen und Spuren setzen.
Mit Stadtwanderungen und widerständigern Lesarten befaßt sich Michael Zinganel in seinem Beitrag. Auch er nutzt die Angewohnheiten der Touristen, indem er eine Real Crime Bustour zur Methode vorschlägt. Hier werden Orte realer und imaginierter Verbrechen aufgesucht, die dadurch signifikante Wirkung auf die Stadtwahrnehmung genommen haben. Das Freilegen von Vergessenem oder Verdrängtem führt zu Sigmund Freuds Analogie von Stadt und Psyche. Ihm zufolge stellt die Stadt ein Modell für die Lesbarkeit der Psyche dar. Der Autor Michael Zinganel erwähnt neben Walter Benjamin und dessen kulturgeschichtlichen Diskursen zur Stadtwahrnehmung auch den unbekannten Franz Hessel, Ein Flaneur in Berlin (1984) oder Michel de Certeau, auf den sich die Herausgeberin Irene Nierhaus bezieht.
Temporärer Urbanismus. Über die Zeitlichkeit bei der Transformation der Städte. Robert Temel stellt Typen der Veränderung vor. Benennt die Ökonomie, Planungstheorie die dahinter steckt, greift Event City und Subversion auf.
Migrantinnen fragen Elke Krasny, welche kartografische Eingriffe zu einer aktiven Einschreibung in den Plan der Stadt führen. Das Interview hat Rubia Salgado zusammengestellt.
Weitere Beiträge befassen sich mit Stadtraum und künstlerischen Aktionen, wie Klaus Schäfer, der Stadt und Lärm miteinander verknüpft und einen Klangspaziergang unternimmt. Ute Neuber wiederum bedient sich eines Lassoseils, um damit eine Skulptur zu schaffen, die 9 Meter Umfang hat und den Raum zwischen sich und Lassowurf durch Ausmessen verortet. Meike Günther unternimmt eine aufschlußreiche Reise durch Geschichten chinesischer Gegenwartskünstler. Shanghai Assemblage. In die Reihe der künstlerischen Intervention gehört auch Frauke Ellßel, die sich mit künstlerischem Agieren im öffentlichen Raum auseinandersetzt.
Queer/Trans: Geschlecht und Sexualität im Spannungsfeld urbaner Zentren und Peripherien. Eine exemplarische Analyse von Boys don't Cry (USA, 2000) oscarprämierter Spielfilm. Josch Hoenes beschäftigt sich mit schwul-lesbischem Leben in Großstädten. Beschäftigt sich mit Peripherien und familiärer Ordnung sowie der Bedeutung von staatlicher Ordnung und Zweigeschlechtlichkeit.