In einem von der Grundstücksgemeinschaft Carl Kaess zusammen mit der IBA’27 und der Stadt Backnang ausgelobten Werkstattverfahren wurden Konzepte zur Umnutzung und möglichen Erweiterung für das Bestandsgebäude Fabrikstraße 45 entwickelt. Beteiligt hatten sich vier Büros. Die beste Lösung nach Meinung der Jury haben die Architekten Frohn und Rojas von der Planungsgesellschaft mbH FAR aus Berlin gefunden. Bis zum Ausstellungsjahr 2027 soll der Baustein des neuen Quartiers realisiert sein.
Bereits 2021 ist für das Quartier Backnang West in einem internationalen städtebaulichen Wettbewerb eine städtebauliche Gesamtvision entwickelt worden. Teil des Konzepts ist das im Süden gelegene Teilquartier der »WohnFabrik«. Dieses Areal, zu dem das Gebäude Fabrikstraße 45 gehört, ist im Eigentum der Grundstücksgemeinschaft Carl Kaess. Mit seiner Lage am Auftakt des neuen Teilquartiers und in direkter Nähe zur Murr soll die Fabrikstraße 45 künftig verschiedene Nutzungen vereinen: zum bestehenden Gewerbehof kann weiterhin produziert und gearbeitet werden, zum Quartierseingang findet sich Platz für Veranstaltungen und Gastronomie und zur Murr hin kann künftig in den oberen Geschossen auch gewohnt werden.
Indem sie das bestehende Gebäude auf seine Tragstruktur zurückführen und von störenden Ein- und Zwischenbauten befreien, legen die Architekten eine robuste Struktur für künftige gewerbliche Nutzungen im Bestand frei. Ergänzt wird das Haus um eine zweigeschossige Aufstockung, die – um 90 Grad gedreht – auf das oberste Geschoss gelegt wird und Wohnungen aufnehmen kann. Die künftigen Bewohner:innen haben Ausblicke auf das Wasser, aber auch zur Innenstadt Backnangs. Zusätzlich kann das Gebäude erweitert werden. Dafür schlagen die Architekten einen neuen Kopfbau nach Osten vor. Dieser kann mit einer Höhe von sieben Geschossen einen bis weit in die Stadt sichtbaren Auftakt im Quartier bilden.
Um das Gebäude mit seinem Umfeld gut zu verzahnen, soll außerdem eine »Werkspassage« im Bestand angelegt werden. Diese führt von einem neuen Platz am Quartiersauftakt im Nordosten durch das Haus bis zu einem neuen Freibereich an der Murr im Südwesten. Nach Osten können Gastronomie und Gewerbebetriebe im Erdgeschoss die Freiflächen zur Murr hin nutzen. Hier berücksichtigt der Entwurf auch den mit der Neugestaltung des Murr-Ufers vorgesehenen Uferweg zum Hochwasserschutz.
Zirkularität: Backnang-West als »urbane Mine«
Zusätzlich soll in Nachbarschaft der Fabrikstraße 45 ein erlebbares Materiallager entstehen. Denn möglichst viel des beim Abriss von Gebäuden im künftigen Quartier Backnang West anfallenden Materials soll beim Bau neuer Häuser wieder verwendet werden: ein Modell für zirkuläres Bauen, das die Stadt als »urbane Mine« versteht. Dafür müssen Materialien zwischengelagert und sortiert werden – idealerweise vor Ort, um lange Transportwege zu vermeiden. Der im Werkstattverfahren ausgewählte Entwurf sieht nun vor, dass über den mehrjährigen Umbau des Areals hinweg ein erlebbares Materiallager als Informationspunkt für das zirkuläre Bauen eingerichtet wird. Eine erste Nutzung für Backsteine aus dem Rückbau der Fassaden des Hauses Fabrikstraße 45 wird im Konzept schon mitgedacht: so könnten diese in die Deckenkonstruktion des neuen Kopfbaus integriert werden.
Der Juryvorsitzende Johannes Ernst aus München erklärt: »Wir sehen in dem von FAR vorgelegten Entwurf für die Transformation eines bestehenden Fabrikgebäudes den idealtypischen, gemischt genutzten Stadtbaustein der Zukunft: Vorhandene bauliche Ressourcen werden effizient als Impulsgeber für ein neues Ganzes genutzt, die verschiedenen Nutzungen Arbeiten, Verwalten, Erfinden und Wohnen sind sinnvoll gemischt und gekonnt wird das frische Bild einer nach vorne schauenden Architektur skizziert.«
Jurymitglied und Amtsleiter des Stadtplanungsamts der Stadt Backnang, Tobias Großmann, ist ebenfalls vom Ergebnis überzeugt: »Der Entwurf von FAR Architekten zeigt auf gelungene und für Backnang beispielgebende Art und Weise, wie der historische Gebäudebestand der Alten Fabrik zur Arbeitswelt der Zukunft an der Fabrikstraße 45 transformiert werden kann. Darüber hinaus wird durch die elegante Aufstockung ein wunderbarer Auftakt zur grün-blauen Insel und in den Werkhof inszeniert.«
IBA’27-Intendant Andreas Hofer sagt: »Es war Liebe auf den zweiten Blick. Das Siegerprojekt hat uns zuerst irritiert, weil es den naheliegenden Gedanken, die Bestandsgebäude aufzustocken, ignoriert und mit der Neunziggraddrehung zeichenhaft Wolkenbügel in den Himmel malt, die dem angestrebten gewerblichen Pragmatismus zu widersprechen scheinen. Bei näherer Betrachtung zeigte sich aber die kluge Rationalität, Eingriffe zu minimieren, Gebäudetiefen für den Wohnungsbau zu optimieren und ein modulares Konzept anzubieten, das in der Weiterentwicklung der Bauträgerschaft vielfältige Optionen bietet, die bestehende Gewerbeliegenschaft zu erweitern und zu ergänzen.«
Werkstattverfahren mit vier Architekturbüros
Wolfgang Kaess, Geschäftsführer der Grundstücksgemeinschaft Carl Kaess, war es wichtig, den Entwurfsprozess zu begleiten und mit den Bearbeiter:innen der Entwürfe in einen Dialog zu treten. Daher wurde als Verfahrensart ein Werkstattverfahren gewählt. Die vier zur Bearbeitung der Aufgabe vorab ausgewählten Büros wurden zunächst vor Ort von der Verfahrensbetreuung, dem Büro ORplan aus Stuttgart, gemeinsam mit dem Statiker Roland Fischer vom Büro schlaich bergermann partner, ebenfalls aus Stuttgart, mit dem Gebäude und dem Areal vertraut gemacht. In einem Werkstatttag wurden die Entwürfe mit der Jury diskutiert und die Aufgabe geschärft. Zum finalen Jurytag durften alle Büros ihre Entwürfe der Jury vorstellen.
Das Ergebnis:
1. Rang:
FAR frohn&rojas Planungsgesellschaft mbH, Berlin, mit: B+G Ingenieure Bollinger und Grohmann GmbH (Fachplanung Energiekonzept und Tragewerksplanung) und Prof. Dipl. Arch ETH/SIA, M. ARCH. Dirk Hebel (Fachplanung Rezykliergerechtes Bauen)
2. Rang:
feld72 architekten ZT GmbH, Wien, mit: Werkraum Ingenieure ZT GmbH, Transsolar Energietechnik GmbH, materialnomaden, mhd Brandschutz Architekten Müller Häberlen PartGmbB
2. Rundgang (gleichwertig):
stammler architekten Part GmbB, Schorndorf
plus bauplanung gmbh, Neckartenzlingen
Quartier Backnang West
Die Stadt Backnang hat mit der Entwicklung des 16,4 ha großen am Rand der Altstadt gelegenen und vormals industriell genutzten Areals eines von derzeit 23 Projekten der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27). Die Entwicklung der Flächen zwischen dem Fluss Murr und der Wilhelmstraße, Fabrikstraße und Untere Au ist eine besondere Chance für die städtebauliche Entwicklung Backnangs. Das Areal soll nach dem Leitbild der »produktiven Stadt« zu einem urbanen und vielfältigen Stadtquartier mit viel nachbarschaftlicher Nähe entwickelt werden. Durch die Nutzungsmischung, Multifunktionalität und ein Denken in Kreisläufen greift das Projekt zentrale Leitthemen der IBA’27 auf.
Das Gesamtprojekt wurde 2022 als Teil der Nationalen Projekte des Städtebaus vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen mit drei Millionen Euro bedacht. Die Transformation der grün-blauen Insel, die Neugestaltung des Murr-Ufers und des Hochwasserschutzes ist dabei eines der drei Starterprojekte, die aus diesem Topf gefördert werden sollen.
Mehr zum Quartier Backnang:
www.iba27.de/projekt/quartier-backnang-west
www.backnang.de/stadt-gestalten/iba_27