Zahlreiche Autoren aus unterschiedlichen Wissensgebieten finden sich in diesem Suhrkamp Taschenbuch, stw 1891, mit Darstellung des zugehörigen Forschungsfeldes. Der Sammelbegriff Raumwissenschaften wurde gewählt, weil eine Möglichkeit besteht Zugang auf verschiedene Forschungsrichtungen zu gewinnen, die im Austausch stehen. Zunächst bezeichnete der Begriff die Landvermessung die Geometrie betreffend, die sich immer nur auf drei Abmessungen: Länge, Breite und Höhe bezieht. Es gibt aber nicht nur eine einzige Vorstellung von Raum, vielmehr ergeben sich sehr viele Definitionen. Raumwissenschaften in diesem Sinne sind eine apriorische Wissenschaft. Der Herausgeber, der sich damit auf Kant bezieht, liefert im Vorwort einen Überblick über die Geschichte. Habermas führte in den 1980er Jahren noch eine kritische Diskussion. Neue Forderungen kamen erst nach Beendigung des Kalten Krieges und den damit verbundenen territorialen Veränderungen auf, wonach der Blick nicht allein auf das Soziale, sondern auf Raum gerichtet ist. Raum kann hier als Wirkung gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden werden, nicht wie bisher in der Architektur vorwiegend behandelt, in der materieller und wahrgenommener Raum stets identisch sind.
Buchumschlag: Suhrkamp
Das Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft hat 406 Seiten. Nach einführendem Vorwort von Stephan Günzel reihen sich insgesamt 24 Beiträge mit ca. 15 Seiten Umfang je Beitrag zum Thema Raumwissenschaften auf. Hierbei werden unterschiedliche Wissensfelder berührt. Ein Kennzeichen des Bandes ist vielleicht, daß rationale Welten behandelt werden, wie aus Natur-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften, der Architektur, Psychologie und Neuere Philologien bekannt. Andere Wissenschaften oder Einsichten werden nicht in den Austausch einbezogen oder nur ganz am Rande erwähnt, wie synästhetische Erfahrungen oder ähnliches. Das ist zwar immer noch ein breites Feld der Untersuchung, doch die Vorstellung von Raum jenseits der herkömmlichen Wissenschaften ist ebenso erforderlich, um ein ausgewogenes Bild zu haben. So gesehen, sind materieller und wahrgenommener Raum identisch, sie folgen der Logik in den anerkannten Wissenschaften. Das veranschaulicht in gewisser Weise auch den interdisziplinären Anspruch der Wissenschaftsreihe aus dem Suhrkamp Verlag.
Der erste Beitrag ist von Michaela Ott, Kunsthistorikerin, die sich auf den Bereich der Ästhetik bezieht. Sie nimmt zunächst wie Herausgeber Stephan Günzel Bezug auf Kant und nimmt dessen apriorischen Fähigkeiten auf. Kommt dann schnell nach Einführung der Psychologie zu aktuellen Beispielen aus der Kunst der Gegenwart, um im zweiten Kapitel auf Geister wie Lessing, Goethe, Schelling, Hegel und Jakob Burckhardt zu schließen. Doch erst das 20. Jahrhundert kennt eine bis dahin unbekannte Vielfalt der ästhetischen Raumreflexion. Die modernen Avantgarden erscheinen bei ihr als aufeinander folgende Strategien der Raumvervielfältigung, die sich auch noch multiplizieren. Sie setzt damit eindeutig auf ein quantitatives Konzept der Raumbildung. Selbstverständliche Ergänzung stadträumlicher Planung ist die Kunst am Bau, die im Crossover immer wieder in ein Spannungsfeld zur Architektur gerät.
Autorin Franziska Lang beschäftigt sich mit Landschaftsraum, woraus die Siedlungsarchäologie schließt. Sie unterscheidet zwischen zentraler Stadt und peripher gelegenem Dorf und zieht daraus Schlüsse auf die Konstituierung von Raum. Von wesentlicher Bedeutung sind bei ihr die Schichtenfolgen auch Stratifikation, die sukzessive Überlagerung geologischer Schichten in zeitlicher Abfolge bedeuten - auf Seite 37 ist ein Schreibfehler, statt kritisch steht dort kritsch. Franziska Lang will den Neubegriff postmoderne Archäologie aufgreifen, die durch Einbeziehung der Geistes- und Sozialwissenschaften eine unmittelbare Formung des Menschen durch den ihn umgebenden Raum ermöglicht. Als Beispiel werden die Wirkung von Monumenten in der Landschaft, Stadträume und anderes mehr erwähnt.
Der Architekturtheoretiker Eduard Führ unterscheidet in seiner Untersuchung vier knapp gefasste Kategorien beginnend mit dem funktionalistischen Raum, der sich aus dem Gegensatz Inhalt und Funktion erschließt. Der fließende Raum ist nur eine Komponente daraus. Der gotische Raum, der sich durch Schichtungen in die Tiefe verjüngt ist ein anderer. In einer zweiten Kategorie erscheint der strukturalistische Raum, der in der Architektur mit der Entwicklung in der Nachkriegszeit entsteht und sich als Nachfolger der Klassischen Moderne sieht. Eine Folge bei der Aufzeichnung des strukturalistischen Raumes ist der völlige Verzicht auf Bauten, was als erster Aufbruch in virtuelle Welten der Gegenwart zu verstehen ist. Eine zweite Richtung bezieht sich auf den CIAM Kongress aus dem Jahre 1953 mit Blick auf den Menschen und das Soziale einschließlich seiner ethnologischen Komponenten und benennt die islamische Stadt. Eine weitere Kategorie bildet der öffentliche Raum, der seit dem 19. Jahrhundert vor allem auf Stadtplanung gerichtet ist. Während der phänomenologische Raum auf wenige Autoren beschränkt bleibt. Die Phänomenologie sieht der Autor bei Heidegger und den beim Werkbund gehaltenen Vortrag "Bauen, Wohnen, Denken" aus dem Jahre 1951, wonach Bauwerken die Aufgabe zukommt die Welt zu verändern. Durch ihre Materialisierung wird die neue Welt sichtbar. Hier ist der Architekt als Demiurg gemeint, eine Rolle die ihm früher häufiger gegeben wurde. Während Christian Norberg-Schulz mit dem genus loci argumentiert und phänomenologischen Raum und dessen Präsenz vielmehr in der ureigensten Identität des Ortes sucht.
Das Thema Sprache und Raum untersucht in der Linguistik die Verbalisierung räumlicher Wahrnehmungen. Die Auseinandersetzung mit diesen Räumen ist theoretisch in der Erinnerung an konkrete Räume, mit deren sprachlicher Umschreibung die Sprachkognition eingesetzt hat. Karin Wenz räumt mit Chomsky (1965) die kognitive Wende ein, die sich seit den 1980er Jahren besonders dem Themenkreis Sprache und Raum zuwendet. Es geht zunächst um eine semantische Beschreibung der Raumausdrücke. Sprechen über Raum setzt dessen Kognition voraus, das heißt dieser Raum muß erkannt sein, bevor darüber gesprochen werden kann. Die Forschung hat sich mittlerweile auf das gesamte Gebiet der sprachbegleitenden semiotischen Systeme ausgedehnt wie zum Beispiel Gestik.
Interessant ist der Aspekt, daß die Umsetzung einer räumlichen Konfiguration in Sprache eine Auflösung der mehrdimensionalen Raumwahrnehmung in eine lineare Struktur voraussetzt. Psycholinguistische Forschung untersucht, wie es Sprechern gelingt, eine komplexe dreidimensionale Raumwahrnehmung auf die Linearität der Sprache zu übertragen. Der Begriff der kognitiven Landkarte taucht auf. Die Mnemotechnik nutzt Brücken, um Schlüsse zu ziehen. Schließlich zielt die Autorin auf die Konstruktion von Wirklichkeit in Wahrnehmung und Sprache. Wichtiges Hilfsmittel ist die Raumsemiotik.
Auch Sylvia Sasse befaßt sich mit Sprache und Raum vorwiegend im literarischen Sinne. Sie stellt den französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette voran. Genette stellt die Negativbestimmung des Räumlichen in der Literatur nur heraus, um sie zu überwinden. Bezugspunkt ist der Aufsatz über Laokoon, indem sich der Verfasser Gotthold Ephraim Lessing fragt, inwieweit Kunst und Literatur in der Lage sind, eine wirklichkeitsgetreue Darstellung des Raums zu leisten. Ein Grundlagenwerk wie Sasse meint. Abgesehen davon trifft die Autorin auf de Sausure, Derrida und Sigmund Freud, um Verräumlichung von Sprache durch Schrift zu veranschaulichen. Raum betrifft auch die Rhetorik. Sie benennt Alfred Döblins multiperspektivische Erzählweise in Berlin Alexanderplatz oder den James Joyce Roman Ulysses. Der Beginn des 20. Jahrhunderts ist durch ein neues Raumwissen geprägt. Sie nimmt Bezug auf Cassirer und Michail Bachtin, der sagt, daß Lessing die Raumzeitlichkeit in der Literatur entdeckt habe. Bachtin entwickelt eine Korrelation von Raum und Zeit. Sie schiebt Kant und Neukantianer hinterher. Sasse kennt auch den russischen Kultursemiotiker Jurij Lotman der 1960er und 1970er Jahre und dessen Untersuchungen zur Semiotik. Michel de Certaus Studie "Die Kunst des Handelns" vergleicht Bewegungen im Raum mit sprachlichen Äußerungen. Der Amerikaner J. Hillis Miller sieht im Sprechakt die Kennzeichnung dessen, was er Topographie nennt. Zum Abschluß beschreibt sie den Neubegriff der Geopoetik des Ukrainers Andruchovycs.
Bei Jan C. Schmidt ist Physik die Raumwissenschaft schlechthin, denn ohne Raumbezug ist Physik nicht möglich. Zweite Option ist Raum und Zeit. Vor allem die Entwicklungen der Relativitätstheorie prägten das 20. Jahrhundert auch in Bezug auf die Materie. Wieviel Dimensionen finden sich: 4, 10 oder mehr? Ist Raum immanent oder unterliegt dieser der Evolution? Viele große und grundsätzliche Fragen werden vom Autor gestellt. Eine abschließende Klärung ist nicht erreicht worden.
Die Autoren
Michaela Ott - Ästhetik/ Kunstgeschichte
Franziska Lang - Archäologie
Eduard Führ - Architektur/ Städtebau
Stephan Günzel - Bildtheorie
Michael Weingarten - Biologie/ Ökologie
Christian Reutlinger - Erziehungswissenschaft
Dieter Haller - Ethnologie/ Sozialanthropologie
Karl Sierek - Filmwissenschaft
Bruno Werlen - Geographie/ Sozialgeographie
Marcus Sandl - Geschichtswissenschaft
Gyula Pápay - Kartographie
Hartmut Böhme - Kulturwissenschaft
Karin Wenz - Linguistik/ Semiotik
Sylvia Sasse - Literaturwissenschaft
Markus Banagel - Mathematik/ Topologie
Nina Noeske - Musikwissenschaft
Dirk Quadflieg - Philosophie
Jan C. Schmidt - Physik
Maria de Mar, Castro Varela, Nikita Dhawan und Shalini Randeria - Postkoloniale Theorie
Judith Glück und Oliver Vitouch - Psychologie
Horst Dreier und Fabian Wittreck - Rechtswissenschaft
Markus Schroer - Soziologie
Thea Brejzek, Gesa Müller von der Haegen und Laurence Wallen - Szenografie
Elisabeth Jooß - Theologie